Noch Anfang Woche zweifelte Martin an der Durchführbarkeit der Tour, die uns am Samstag vom Gotthardpass auf den Pizzo Centrale führen sollte. Im Wetterbericht wurde von Bewölkung und Gewittern gesprochen. Doch je näher der Starttermin rückte, desto besser wurden die Prognosen: Sonne, blauer Himmel und im Flachland über 30 Grad. Es galt also, wenig einzupacken. Die angekündigten 11 Grad auf der Passhöhe erwiesen sich beim angenehmen Aufstieg zum Stausee Lago della Sella (2221 m) als doch etwas tief angesetzt – man geriet rasch ins Schwitzen, und das wird sich während der ganzen Tour nicht ändern, selbst auf dem Gipfel ist es angenehm warm. Doch bis dahin sind noch einige Höhenmeter zu überwinden. Vorerst wandern wir am rechten Seeufer entlang bis zu einem Bauernhaus (Cascina di val Torta) am Talende, wo Tessiner Bauern gerade dabei sind, Zäune für die Kühe aufzustellen. Auf dem Weg dahin haben wir Martins Partnerin Erica angetroffen, die mit Hund Bonita auf uns gewartet hatte. Sie verlässt uns aber schon bald wieder, um über den Normalweg auf den „Centrale“ zu steigen.
Wir steigen derweil westlich des Baches steil über grasige Hänge hoch. Ein Weg gibt es nicht. Doch Martin führt sicher ins Val Prevat. Weglos geht es weiter, immer die Höhe haltend, zu einem nächsten Aufschwung, vor dem der Bach abermals überquert wird. So gelangen wir alsbald auf eine weitere Ebene, in der sich ein namenloser, teilweise noch mit Schnee bedeckten See ruht. Wir rasten, stärken uns und marschieren dann dem linken Seeufer entlang zum Talende, wo wir über gut verfestigten Schutt zur Rotstocklücke (2783 m) hochsteigen. Dort gibt es neben dem Oberalpstock oder dem Tödi auch ein Rudel Steinböcke zu entdecken, die die Nordflanke des Pizzo Prevat nach frischen Grasbüscheln absuchen. Von hier geht es in knapp einer Stunde über den Ostgrat bis zum Tagesziel. Über Blöcke steigen wir zur Grathöhe auf und folgen dem stellenweisen luftigen Grat, zwischen dessen Felsen sich inzwischen ein Pfad ausgebildet hat bis zum Gipfel.
Das Ziel, der Pizzo Centrale, taucht bald einmal auf. Zu sehen ist er erst im letzten Moment, denn kein Kreuz weist auf ihn hin. Lediglich ein Gipfelbuch ist in einer unscheinbaren Steinpyramide deponiert. Dabei hätte der Gipfel weit mehr verdient. Wie schon der Name andeutet, ist es ein wunderbarer Aussichtsberg im Herzen der Schweiz. Das hatte auch der angehende Schweizer Alpengeologe Albert Heim (1849 - 1937) entdeckt. Als 19-Jähriger erstellte er im Sommer 1868 ein "Panorama vom Pizzo Centrale od. Tritthorn Sanct Gotthard (Blauberg der Dufourkarte) 3002 Meter über Meer". Er zeichnete die Berge rund herum als auf eine faltbare Karte und beschriftete sie entsprechend, gleich den Panoramakarten, die es auf vielen touristischen Aussichtspunkten gibt. Hierfür dürfte der junge Heim wohl einige Male zum „Centrale“ hochgestiegen sein und dort viele Stunden verbracht haben, um sein Werk zu vollenden. Es sei, so wird gesagt, in Bezug auf die Unterscheidbarkeit der zahlreichen Gipfel und der hintereinander gestaffelten Bergketten noch heute jeder Fotografie überlegen.
Derweil geniessen wir das Picknick und entdecken einen im Stein eingelassenen Bronzebolzen. Er ist der aktuelle Vermessungspunkt und mit 2999 Metern kotiert. Aktuell deshalb, weil der Triangulationspunkt bis vor rund 50 Jahren höher lag, nämlich auf 3001 Meter. Durch einen Felsabbruch verlor der „Centrale“ in den Siebzigerjahren ein Stück seines Gipfels.
Nach 4 3/4 Stunden Aufstieg folgt nun der Abstieg über die Normalroute, die über den Guspisattel, der im Winter als Zustieg vom Gemsstock her dient, entlang der Westflanke zurück zum Lago dell Salla führt. Mit dabei ist auch wieder Erica und Hund Bonita. Während wir dem See entlang zurückmarschieren, nehmen zwei der Gruppe noch rasch ein Bad im See. Der Rückweg führt weit unterhalb der Alpe della Sella entlang. Etwa dort, wo tief im Untergrund der Gotthard-Strassentunnel unseren Weg kreuzt, da ist, weit oben, ein einst geheimer Eingang zur Festung Sasso da Pigna zu sehen. Heute befindet sich um den Eingang eine metallene Aussichtsplattform. Das 1943 erstellte Artelleriewerk wurde 1998 als Kampfanlage aufgehoben und ist seit 2012 ein Museum.
Wir erreichen derweil auf dem Gotthardpass alle noch rechtzeitig das zweitletzte Postauto an diesem Tag und sind nach zugsbedingten Verspätungen von knapp einer halben Stunde am späteren Abend wieder im Unterland.
An dieser Stelle ein grosses Dankeschön an Martin für die tolle und auch einsame Tour auf einen grandiosen Aussichtsberg im Herzen der Schweiz.